VON DER FAMA ZUR INFORMATIONSGESELLSCHAFT Von Göttern, Propheten und dem Listserver-Dämon von "Nettime" Florian Cramer "Il est beau à un prince de montrer qu'il est informé de tout". (Louis XIV) Das Schlagwort von der "Informationsgesellschaft" verbindet nicht nur Medienprophetien, Medienpolitik und Medienwirtschaft. Es steht auch im Zentrum jener "Netzkritik" und "Netzkultur", die im _Nettime_-Forum und seinem Umfeld von Zeitschriften, Büchern und Kongressen verhandelt wird. In den Archiven der Mailingliste findet sich "Informationsgesellschaft" als bereits formierte oder sich gegenwärtig abzeichnende Realität beschrieben, die es mit kritischen oder zumindest nichtkommerziellen Konzepten zu besetzen gelte. Daß die Idee der Informationsgesellschaft als solche jedoch älter ist als das Internet und seine Propheten und Kritiker, erweist sich im Rückblick auf die Geschichte der Sozialutopien. Im 17. Jahrhundert wird die Informierung der Gesellschaft zum religiös-pädagogischen Projekt der protestantischen Gelehrten Johann Valentin Andreae, Jan Amos Comenius und Samuel Hartlib. Ein früher Entwurf dieses Projekts findet sich in Andreaes Schrift _Turris Babel_ von 1619, einer dialogischen Satire auf das Rosenkreuzertum, also jene fiktive Bruderschaft, von deren paracelsisch-chiliastischer Generalreformation Andreae einmal selbst, als Mitverfasser der 1614 anonym publizierten _Fama Fraternitatis_ gekündet hatte [1]. Zwischen 1614 und 1619 hatte sich diese Fiktion verselbständigt. In mehr als 150 Antwortschriften auf die _Fama_ suchten Autoren jeglicher Provenienz, unter ihnen Fludd, Kepler und Mersenne, die geheimen Rosenkreuzer-Brüder zu kontaktieren oder ihre Existenz zu widerlegen [2]. Mit dem _Turris Babel_ schaltet sich Andreae in die Debatte ein und karikiert, ohne den Schleier der _Fama_-Autorschaft zu lüften, den von ihm selbst angestifteten Furor. 75 allegorischen Protagonisten legt er jeweils verschiedene Meinungen über die Rosenkreuzer in den Mund. Im sechzehnten Kapitel sind dies drei Personen: der "Reformator", der "Deformator" und der "Informator". Während der Deformator sich aller Bindungen und Institutionen samt Kirche und Staat entledigen will, hofft der Reformator auf ihre Restitution durch die Rosenkreuzer. Der Informator aber fordert, man müsse die Menschheit "so _informieren_, daß die göttlichen Gesetze vor der Korruption des Deformators und dem Verbesserungseifer des Reformators gerettet und zu Maximen und Axiomen dieser Welt gemacht werden" [3]. "Informieren" heißt hier also, im Sinne des lateinischen Worts, "einprägen" oder "bilden". Der Informator wird zum Agenten einer neuen _Christiana Societas_, die das Schlußkapitel des _Turris Babel_ und spätere Schriften Andreaes entwerfen [4]. Die Rosenkreuzer weichen der Christengesellschaft, und der Fama folgt die Information. Im Idealstaat dieser Informationsgesellschaft, Andreaes Gelehrtenrepublik _Christianopolis_, ist das Wissen der Menschheit in öffentlichen Schaubildern denotiert [5], geschieht die kollektive Prägung also multimedial und in der Logik eines Push-Kanals. Die Pädagogik wird zur Schlüsseldisziplin dieses Projekts, weil sie die technischen Werkzeuge der Informierung liefert. Um 1620 verfaßt Andreae die Erziehungsschrift _Theophilus_, doch erst seinem Adepten und Mitstreiter Comenius gelingt es, die Pädagogik zur neuen Generalwissenschaft zu machen [6]. Nachdem das Projekt der _Christiana Societas_ zuletzt in England scheitert, retten sich die Technologien der utopischen Informationsgesellschaft in die Schulerziehung. Aus den "Schauhäusern" von Christianopolis wird der _Orbis pictus_, die erste Bilderfibel. Wie in Goethes "Dichtung und Wahrheit" zu lesen ist, bleibt er bis ins späte 18. Jahrhundert hinein das kanonische Schulbuch Europas. Was aber verbindet die postrosenkreuzerische Informationsgesellschaft mit der postmodernen Informationsgesellschaft der Netzapostel und Netzkritiker? Indem Andreaes In-Formation gegen De-Formation, Re-Formation und die Fama antritt, ist sie nicht nur pädagogisch und theologisch aufgeladen, sondern auch radikal performativ konzipiert. Denn Information definiert sich hier nur durch ihre Wirkung, als etwas, das den Empfänger erreicht und prägt. Hierin erweist sich dieser Begriff als kompatibel zu Shannons moderner Bestimmung der Information als Anti-Entropie. In Andreaes babylonischem Turm ist die Information kein selbstreferentiell zirkulierendes Spielelement, sondern ihr ist ein Machtgefälle eingeschrieben, denn sie scheidet Informanten von Informierten. Ihre Information kommt vom Ursprung, sie ist radikal originell. Um originell zu sprechen und zu vermeiden, daß sich die Information redundant mit dem Wissen der Informierten verrauscht, muß dieser Informant einen entfernten Ort jenseits der Gesellschaft beziehen. Im Gegensatz zu späteren Informationsgesellschaften verschweigt Andreaes _Christian Societas_ diesen Ort nicht, sondern weist ihn als Himmel aus und nennt den Informanten Gott. Diese Informationsgesellschaft informiert nicht sich selbst, sie wird informiert. Doch gilt dies auch für die heute postulierte Informationsgesellschaft? Kann sie eine Gesellschaft der Informanten sein, statt einer Gesellschaft der Informierten? Ihrer Etymologie nach ist Gesellschaft ein Gebilde von Gesellen, die im selben Saal sitzen; sie gründet sich auf ein gemeinsames Fundament. Wenn Gemeinsamkeit redundant ist, "Information" nach Shannon und Andreae hingegen nicht-redundant, dann widersprechen sich "Information" und "Gesellschaft". Andreaes Christengesellschaft löst diesen Widerspruch, indem sie ihren Informanten exiliert. Eine "Informationsgesellschaft" hingegen, die sich - wie ihr Titel suggeriert - allein auf ihre Selbstinformierung gründet, auf radikale Originalität also statt auf Redundanzen oder externe Informanten, könnte nicht kommunizieren. Sie wäre eine Gesellschaft ohne Saal und Gesellen. Vielleicht meint die Rede von der "Informationsgesellschaft" ja nicht "Information" im strengen Sinne, sondern identifiziert "Information" mit "Zeichen". Als bloßes "Zeichen" würde Information Rauschen und Nicht-Rauschen einschließen, Unschärfe ebenso wie Prägnanz. Dann allerdings beschriebe die "Informationsgesellschaft" keine Differenz mehr zur alten Gesellschaft und ihrem Signal-Rauschabstand, sondern würde sich darin erschöpfen, Schlagwort zu sein. Gesteht man dem Begriff "Informationsgesellschaft" dennoch politische Brisanz zu, so folgt, daß keine Informationsgesellschaft, die mehr ist als nur ein Schlagwort, ohne transzendentale Informanten auskommt. Wenn "Netzkritik" und "Netzkultur" die "Informationsgesellschaft" als gegenwärtiges oder künftiges Faktum annehmen, dann arbeiten sie nicht nur mit demselben theoretischen Dispositiv wie die affirmative Netzprophetie. Sie beteiligen sich auch, nolens-volens, an der politischen Theologie, die dem Begriff der Informationsgesellschaft eingeschrieben ist. Und so treffen sich "Netzkritiker" und Netzpropheten dort, wo sie vorgeben, ohne transzendentale Informanten auszukommen, sie aber unter der Hand weiterbeschäftigen. Als Geert Lovink und Pit Schultz ihr Konzept der "Netzkultur" und "Netzkritik" im Kasseler Spätsommer 1997 vorstellten, verteidigten sie "das Netz" gegen den Konservativismus der Akademien und riefen zugleich die Akademiker dazu auf, sich endlich in selbiges zu begeben [7]. Das Publikum deutete die Rede, zumal sie von der Universität Kassel beherbergt und finanziert war, als ungerechtfertigte Polemik, übersah dabei jedoch, daß es sich dabei weniger um einen Universitätvortrag handelte, als vielmehr um eine gelungene Neuauflage der Rosenkreuzer-_Fama_, mitsamt des großen rhetorischen Gestus, der Generalkritik der Kultur und des Schlußappells an die Gelehrten der Welt. Darüber hinaus hatten sich beide Sprecher an die rosenkreuzerischen Regeln gehalten, aller Welt Gutes zu tun, sich unauffällig zu kleiden und bei Auslandsreisen stets die Landessprache zu sprechen, um ihre wahre Mission vor den Machthabern geheimzuhalten. Nach erfolgreicher Verkündung der _Fama_ wird das "Nettime"-Forum nun den nächsten logischen Schritt unternehmen und, wie Andreaes _Turris Babel_, sich als dialogische Parodie seines eigenen Diskurses fortschreiben. Wenn der Diskurs der "Netzkritik" eben jene kritische "Netzkultur" erzeugt, die er reflektiert, und wenn der Diskurs der Netzprophetie eben jene affirmative "Netzkultur" erzeugt, die er reflektiert und umgekehrt, dann scheint es, als diene die "Informationsgesellschaft" Netzpropheten und Netzkritikern vor allem zur Selbstbeschreibung. Und so erhebt sie sich als romantisches Symbol, als dämonischer und göttlicher Hieroglyph, der hell erstrahlt unter der strengen Sonne von Telechristianopolis. [1] Johann Valentin Andreae, _Turris Babel sive Judiciorum de Fraternitate Rosaceae Crucis Chaos_, Straßburg 1619; s.a. Martin Brecht, _Der babylonische Turm oder das Chaos der Urteile über die Rosenkreuzerbruderschaft_, in: _Das Erbe des Christian Rosenkreuz_, Amsterdam 1988, S.143-151 [2] Vgl. _Cimelia Rhodostaurotica_, Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1610 und 1660 erntstandenen Handschriften und Drucke, Wolfenbüttel und Amsterdam 1995; zur Kulturgeschichte der Rosenkreuzer-Manifeste s.a. Roland Edighoffer, _Les Rose-Croix_, Paris 1982 [3] "Interea auditores, cives, liberos, & discipulos nostros ita inform[a]mus, ut Divina judiciam quae vel [...] corruptioni, vel in tempestiva emendationi, id est, vitiosae & deformationi & reformationi irrogarisolent, animadvertant, venerentur, & in maximas sive axiomata hujus Mundi convertant", Andreae, _Turris Babel_, S.46f. [4] _Christianopolis_, Straßburg 1619, _Christianae societas imago_, Tübingen 1620, _Christianismi amoris dextera porrecta_, Tübingen 1620, _Christenburger Schlacht_, Straßburg 1620 [5] Diese und andere Ideen übernimmt Andreae von Campanella, _Città del sole_, 1602 [6] Comenius, _Didactica Magna_, 1657, sowie ders., _Orbis pictus_, 1658 [7] Vgl. Rudolf Maresch, _Der Mediendiskurs in der Krise?_, in: _Telepolis_,