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Kombinatorische Weisheitskunst: Quirinus Kuhlmanns XLI. Libes-kuß

Florian Cramer

10.1.2001

Vielleicht ist es auch eine Pointe, wenn ich heute nicht mehr wie angekündigt über die Parodie kombinatorische Weisheitskunst referieren werde, weil diese Parodie selbst die kombinatorische Form eines Computerprogramms hat und auf Grund technischer Probleme hier nicht präsentiert werden kann. Ich spreche also ausschließlich über Quirinus Kuhlmanns poetische Kombinatorik, die ich als spekulative Sprachkosmologie lese; als eine Kombinatorik also, die nicht nur nicht nur universell-semiotische Disposition von Signifikanten jeglicher Art ist, sondern selbst auch die Signikate permutiert.

Versform

[Folie, XLI. Libes-kuß] Ein ,,merkwürdige[s] Gebilde" wird Quirinus Kuhlmanns XLI. Libes-kuß in nennt Walter Mönchs Geschichte des Sonetts genannt, eine insofern aufmerksame Diagnose, als im Erscheinungsjahr des Buchs 1955 die Rezeption des Lyrikers Kuhlmanns - statt nur des späteren chiliastischen Propheten - gerade erst eingesetzt hatte.1 Gemessen an der Zahl seiner Nachdrucke ist der XLI. Libes-kuß von 1671 heute Kuhlmanns bekanntestes Gedicht. In den 1960er und 1970er Jahren wurde es vor allem im Umfeld von konkreter Poesie und Oulipo rezipiert, später von Computerdichtung. Auch wenn seine die Langverse und Wortreihungen irregulär anmuten, ist das Gedicht regelkonform konstruiert und reflektiert poetische Konvention auch dort, wo es gegen diese verstößt: Es ist ein Sonett mit drei umschlingend gereimten Quartetten und einem Schlußcouplet, eine Hybridform des romanischen Sonetts in seinen ersten zwei Strophen und des englischen Sonetts in seinen letzten zwei. Die asyndetisch gereihten einsilbigen Wörter können permutiert, also in ihrer Reihenfolge ad libitum vertauscht werden. Im Nachwort berechnet der Verfassers wird berechnet, daß ein Schreiber bloß für die Totalpermutation eines Verses ein Jahr bräuchte und druckt auf über zweieinhalb Druckseiten die ausformulierte Zahl der Permutation von 50 ab. Beides, Versform und Kommentierung, ist bekanntermaßen nicht neu im 17. Jahrhundert. Noch aus der Spätantike ist der permutative Carmen XXV von Optatianus Porfyrius überliefert, aus dem Mittelalter unter anderem eine wortwechselnde Marienhymne des Grand Rhétoriqueur Jean Meschinot, Julius Caesar Scaliger kanonisiert die Form 1561 als ,,Proteusvers".2 Neu am XLI. Libes-kuß jedoch ist die Überbietung des Proteusverses zum Proteus-Sonett. Das Gedicht macht sie offen sichtbar als intertextuelle Operation, wie ein Vergleich mit einem Wortwechselgedicht Philipp Georg Harsdörffers zeigt, das 1654 im Poetischem Trichter erscheint [Folie, Harsdörffer, Wechselsatz]:
Auf Angst / Noht / Leid / Haß / Schmach / Spott / Krieg / Sturm / Furcht / Streit / Müh' / und Fleiß
folgt Lust / Raht / Trost / Gunst / Ruhm / Lob / Sieg / Ruh / Mut / Nutz / Lohn / und Preiß.3
Die Wortkombinatorik des XLI. Libes-kuß ist somit nicht nur eine intra-, sondern auch intertextuelle. Von Harsdörffers Vers werden die asydentischen Reihungen, der Versfuß, die Konstruktion des Verspaares mit vertikal korrespondierenden Gegensätzen ins Sonett übernommen, ins Nachwork die Bezeichnung als ,,Wechselsatz". Im Doppelvers wie im Sonett ist dieser ,,Wechsel" einerseits ein syntaktischer der Wortstellungen auf der horizontalen Achse, andererseits ein semantischer in den vertikal korrespondierenden Gegensatzpaaren. Von Harsdörffers 22 Wörtern übernimmt Kuhlmann zwanzig und spart ein Paar aus, beläßt sechs von diesen zwanzig in ihrer originalen Paarung, permutiert sechs weitere unter sich zu neuen Paaren und verbindet die restlichen Wörter mit Wörtern aus dem eigenen Korpus. Dieses Register von Übereinstimmungen und Differenzen schreibt dem XLI. Libes-kuß eine zweite Kombinatorik ein, die eine Kombinatorik der textuellen Appropriation ist. Auch andere Anordnungen von Wörtern im Sonett sind offenkundig nicht zufällig. Zum Beispiel bilden die vertikalen Wortpaarungen der ersten und dritten Strophe Antonymien, in der zweiten Strophe jedoch, passend zum Topos des Kusses, Metonymien. So wird die zweite Strophe zur Symmetrieachse, die sich mit anderen Symmetrieachsen inkongruent überlagert. Immer wieder geschehen ,,Wechsel" im Gedicht. Zugleich unterläuft sich dieses Prinzip, weil jede Vertauschung der Wörter ihre Grundanordnung zerstören würde. Einerseits behauptet das Gedicht, sich erst in seinen Permutierungen zu entfalten, andererseits suggeriert es, daß die Ausgangsanordnung die beste ist. (Auch dies ein ,,Wechsel".)
[Folie] Nicht nur der XLI. Libes-kuß, sondern auch Harsdörffers Wechselsatz gibt sich als Fortschrift eines Prätexts zu erkennen. In einer Fußnote deklariert er sie als ,,Nachahmung des versus vertumnalis bey Lansio",4 d.h. eines 1621 geschriebenen lateinischen Proteusverses des Württembergischen Politik- und Rhetorikprofessors Thomas Lansius:
Lex, Rex, Grex, Res, Spes, Jus, Thus, Sal, Sol, (bona) Lux, Laus.
Mars, Mors, Sors, Fraus, Fex, Stys, Nox, Crux, Pus, (mala) Vis, Lis.
Lansius' Gedicht fügt drei Gedichtformen, die sich Scaligers Poetices in unmittelbarer Abfolge definieren, zu einer. Neben dem Proteusvers sind dies zwei Spezialformen des versus rapportatus, also des grammatisch parallel konstruierten Doppelverses; ersten die ,,Correlativi" als syntaktische Reihungen, zweitens die ,,Concordantes" als discordia concors verbundener Gegensätze.5 Im vergleich Scaligers hexametrischem Beispiel-Proteusvers ,,Perfide sperasti divos te fallere Proteu" ist Lansius Vers' eine metrische und grammatische Simplikation. Sie aber erlaubt es Harsdörffers und Kuhlmanns erst, Proteusverse auch in der deutschen Sprache mit ihren unflexibleren Wortstellungen zu dichten, und sie erlaubt überhaupt erst die Verbindung von Proteusdichtung und lullischer Kombinatorik.
Die Permutierbarkeit von Scaligers Proteusvers und allen anderen Gedicht, die nach seinem Vorbild geschrieben wurden, ist wegen des Hexameters künstlich eingeschränkt; die Zahl seiner mathematisch zulässigen Permutationen ist daher stets höher als die seiner metrisch zulässigen Permutationen.6 So ist Lansius' Proteusvers der erste, der an sich mathematische Kombinatorik demonstrieren kann. Bereits 1630 druckt der Lullist Johann Heinrich Alsted Lansius' Vers mitsamt seiner Permutationstabelle in seiner Enzyklopädie nach. [Folie, Alsted] Kuhlmanns eigene Berechnungen stoppen interessanterweise bei der Permutation von 50, einer Zahl, die sich mit den jeweils dreizehn permutierbaren Wörtern des XLI. Libes-kusses nicht recht erklären läßt. [Folie, Athanasius Kircher] Hier zeigt sich, daß Athanasius Kirchers Ars magnia sciendi sive combinatoria, die auf einer Seite die Permutationen aller Ganzzahlen von 1 bis 50 verzeichnet eine weitere Textquelle des XLI. Libes-kusses ist.7 Schon Kuhlmanns Gymnasialdichtungen benutzen Kirchers Variante von Lulls Generaltabelle als Topik und verzeichnen Kirchers graphische Symbole der lullischen principia an ihren Seitenrändern. (Kirchers Systematik läßt sich, so meine These, auch in der Anordnung der Wörter des XLI. Libes-kuß nachweisen.)
Mit der Restringierung von Flexion, Metrik und Morphologie rückt Harsdörffers und Kuhlmanns Proteusversen paradoxerweise ins Zentrum der Sprache nach dem Verständnis der ihr zeitgenössischen Sprachwissenschaft. Justust Georg Schottelius' 1643 publizierte ,,Teutsche Sprachkunst" definiert einsilbige Substantive als ,,Stammwörter", d.h. als morophologische und semantische Grundeinheiten der deutschen Sprache. Nach Schottelius bilden Stammwörter die elementare Zeichenmenge einer Kombinatorik, die sich in der Sprache selbst vollzieht. Daher zeichnen sie sich dadurch aus, daß
ohne solche Modifikationen ist Schottelius' Stammwörterlehre selbst eine - zudem christlich-kabbalistisch geprägte - Lehre der Wortkombinatorik, denn sie definiert Stammwörter dadurch, daß
,,ihre Anzahl völlig und gnugsam sey: 4. Daß sie von sich reichlich auswachsen und herleiten lassen / was nötig ist: 5. Daß sie allerley Bindungen / Doppelungen und artige Zusammenfügungen leiten."8
Mit der einzigen Ausnahme von ,,Prinz" finden sich alle einsilbigen Wörter, die im XLI. Libes-kuß permutiert werden, auch in der Liste der Stammwörter wieder, die Schottelius in seinem Werk von der Teutschen Haupt-Sprache lexikalisch verzeichnet. Schottelius' ,,Doppelungen und artige Zusammenfügungen" bilden sich auch in Harsdörffers und Kuhlmanns Proteusversen, wenn sie - wie von Harsdörffer notiert - mit jambischer Betonung gesprochen werden und dadurch wie Komposita klingen. Daß man mit der ,,Wunderversätzung" ins ,,Centrum aller Sprachen" gelange, behauptet Kuhlmanns Nachwort.9 Indem beide Gedichte morphologische Prozesse der Sprache zu poetischen Verfahren machen, sind sie nicht bloß Dichtungen mit Sprache, sondern Erdichtungen von Sprache, Poesie als Sprachforschung.10
Quirinus Kuhlmanns Poetik jedoch begnügt sich nicht mit diesem Anspruch. Seine Parallel- und Kommentarschrift zu den ,,Himmlischen Libes-küssen", der Teutsche Geschicht-Herold, inszeniert ihren Verfasser als Universalgelehrten. Ein ,,Skribenten-Register" verzeichnet 900 BÜcher, die Kuhlmann behauptet, gelesen zu haben. Zugleich werden ihre Autoren, zumindest die Kombinatoriker, überboten:
Auch die Gewißheit dises Wechsels zu zeigen haben sich bemühet Hieronymus Cardanus / Athanasius Kircherus / Johann Buteo / Nicolaus Tartalius / Thomas Lansius / Hieremias Drerelius / Daniel Schwenter / Georg Philip Harßdörffer / Christoph Clavius / George Henisch / Marin Mersenne / Hegias Olynthius / Hieronymus Isqvierdo u.v.a. welche aber alle den alten Fußstapffen nachgetreten / und von weiten gewisen / was si vor unmüglich hilten / wegen ihrer Grösse in der Nähe darzustellen."11
Wenn parallel dazu das Nachwort des XLI. Libes-kuß behauptet, im Gedicht seien
,,wi in einem Klumpen / die Samkörnchen der Schluß- Red- Sitten- Weiß- Rechen- Erdmessungs- Thon- Stern- Artznei- Natur- Recht- Schrifft-weißheit verborgen",12
so schreibt dies einerseits die Rhetorik des lullistischen Enzyklopädismus fort, andererseits aber wird aus der ,,Ars magna sciendi", der Wissenskunst, eine Weisheitskunst, Trotz seines so offensichtlichen und berechenbaren Verfahrens erklärt sich das Gedicht zum Seminalgrund, zu einer verborgenen Quelle dieser Weisheit. Auch wenn diese Allweisheit nur eine rhetorisch simulierte wäre, könnte der Leser sie schon deshalb nicht widerlegen, weil alle Permutationen des Texts von keinem menschlichen Leser zu bewältigen sind. An seine Stelle tritt eine Maschine, die in der Vorrede zum ,,Geschicht-Herold" technisch beschrieben. Mit wiederholtem Seitenhieb auf die Lullisten des 17. Jahrhunderts heißt es darin:
Wiwol sie mit disem Schatten sich vergnügeten / war ich doch ni vergnüget / und erfand darüber ein Wechselrad / durch das mein Reim / der in einem Jahrhunderte ni ausgewechselt / inner etlichen Tagen völlig ausgewechselt / und sahe mit höchster Bestürtzung / wi di Wandelung dreizehenfächtig auf einmal geschahe. Vor war die Wechselung von dreizehen Wörtern / einem Menschen unversuchbar / nun nicht mehr.13
Da Kuhlmann ,,Wechselrad" dreizehn Wörter umstellt, ist es offenkundig eine Maschine zur Permutation von jeweils einem der zwölf Proteusverse des XLI. Libes-kuß. Der Prodomus, eine theoretische Schrift Kuhlmanns von 1674, nennt das ,,Wechselrad" ein ,,rotam, tredecim circulos continentem", das mit einer Umdrehung dreizehn Permutationen erzeugen könne. Beide Beschreibungen liefern hinreichende Information für eine technische Rekonstruktion des Apparats [Folie]. Obwohl sie die Vermutung John Neubauers und anderer Philologen zu bestätigen scheint, Kuhlmanns ,,Wechselrad" sei ,,die bei Lull, Bruno, Harsdörffer und anderen schon beobachtete rotierende Kreisfigur" scheint,14 unterscheidet sich das ,,Wechselrad" durch seine Funktionsweise. Denn seinen Kreissektoren sollen Permutationen, nicht Kombinationen abgelesen werden. Also sind nur solche Stellungen der Räder gültig, die auf der vertikalen Achse eine echte - wiederholungsfreie - Permutation der auf den horizontalen Achsen eingetragenen Elemente ergeben. Kuhlmann nennt dies eine ,,neuerfundene Verkürzung"15, weil mit jeder Permutation simultan dreizehn verschiedene Permutationen auf der Vertikalachse angezeigt werden.
Seine Behauptung, ein Sonettvers habe damit ,,inner etlichen Tagen völlig ausgewechselt" werden können, kann jedoch nicht stimmen, weil durch die dreizehnfache Simultanversetzung sich die Gesamtzahl der zu ermittelnden Permutationen lediglich von 13! auf 12! verringert. Die Berechnungen könnten auch mit einem Uhrwerk mechanisiert werden, wenn das Rad tatsächlich nur gültige Permutationen angezeigen soll.16 (Mit derThese, mit dem Ausbau des Wechselrads um weitere konzentrische Kreise erhöhe sich auch dessen ,,transmutandorum virtus", unterliegt Kuhlmann einem arithmetischen Trugschluß.17 Schon Kuhlmanns Unfähigkeit, eine höhere Permutation zu berechnen als jene, die er in Kirchers Tabella vorfindet, legt den Schluß nahe, daß er kein guter Mathematiker ist.)
Wie der ,,Wechsel menschlicher Sachen" im Gedicht sowohl einer syntaktischer, als auch ein allegorischer ist, ist auch das Wechselrad doppelt codiert:
Wi wir zu den wechselversen ein wechselrad ersonnen / um solches auch werkstellig zu machen: So wollen wir gleichfalls Dir den ganzen Naturwechsel in seinen Wechselrade ausführen und entlarvet di wahre Weltweißheit besichtigen.18
Das Motto des Gedichts zitiert eine Passage über die Unbeständigkeit menschlicher Dinge aus der vierzehnten Predigt ,,De paperum amore" des Gregor von Nazianz, und zwar in signifikanter Abwandlung des Originals. Aus ,,verum res nostrae orbis quidam, volvuntur" wird ,,sed omnia quadam veluti rotâ circumvolvuntur", aus ,,mutationes ferentes" ,,vicissitudines afferente". Auch hier praktiziert der Text eine Kombinatorik der Appropriation. Gregors Zitat schreibt er mit ,,rota" nicht nur das Wechselrad ein, sondern auch den Topos des Glücksrads, den ein Abschnitt von Boethius' Consolatio analog formuiert. Mit ,,vicissitudo" gelangt der von Terenz und Erasmus geprägte allegorischen Topos der ,,vicissitudo rerum" in das Zitat. Sowohl Glückrad, als auch die ,,vicissitudo rerum" sind populäre Motive vor allem in den bildenden Künsten der Frühneuzeit; das Glücksrad als Emblem von Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg des Herrschers, die ,,vicissitudo" als zyklische Abfolge von Glück, Reichtum, Hochmut, Neid, Krieg, Armut, Demut und Friede. [Ich verkürze diese Darstellung stark.]
Doch ist es überhaupt sinnvoll, den Wechsel der Wörter im Gedicht getrennt vom Wechsel der bezeichneten Dinge zu betrachten? Für Schottelius, der die deutsche Sprache historisch vom Hebräischen und somit auch von der adamitischen Ursprache ableitet, zeichnen sich Stammwörter dadurch aus, daß sie ,,ihr Ding eigentlich ausdrükken". Expliziter noch verbindet sich antinominalistisches mit christlich-kabbalistischem Sprachdenken bei Quirinus Kuhlmann, zumal in der These, daß ,,durch Anleitung unsers Wechselrades selbst di Natur anagrammatisiert oder buchstabenwechselt".19
Durchaus uneindeutig ist dabei der jeweilige Status von Dichter, Maschine, Natur. Den Schluß, daß kombinatorischen Textgeneratoren selbst zur Semiose fähig seien, legen Kuhlmanns Schriften der frühen 1670er Jahre manchmal nahe, teilweise manchmal nicht. Vor Swifts Textmaschine in der Grand Academy of Lagado und Borges' Bibliothek von Babel, aber ohne deren Ironie projektieren der ,,Geschicht-Herold" und der ,,Prodomus" eine ,,Ars magna librum scribendi", ,,welche alles begreifet / was alle Menschen begreiffen / und durch einen gegeneinanderhaltungswechsel alles belehret / was belehret werden kont",20 indem sie alle gegenwärtigen und alle zukünftigen Bücher durch Buchstabenkombinatorik erzeugt. In einem späteren Briefwechsel mit Athanasius Kircher, der - hochinteressant - neuere Debatten über Sprache und künstliche Intelligenz antizipiert, verwirft Kuhlmann dessen Projekt einer ,,cista" genannten poetischen Kalkulationsmaschine mit dem Argument, er könne zwar jedem kleinen Jungen das Verseschmieden mit kombinatorischen Mitteln beibringen, nicht aber wahre Dichtung.21 Daß Kuhlmann hiermit seine Auffassungen nicht revidiert, verdeutlicht wiederum eine Passage aus dem ,,Geschicht-Herold", die vielleicht das früheste deutsche Manifest einer Genieästhetik ist: ,,Di Verskunst aber wird weder gelernet / weil sie satzungslos; und ist nicht unwissend / weil si am vollkomnesten. Darum lernet ein Poete alles / von deme di Menschen handeln. Und was ein Poet weiß / lernen weder di Menschen noch er selbst."22 [Indem er vom poeta laureatus zum ,,Kühlpropheten" und ,,Kühlmonarchen" wird, verfolgt Kuhlmann diesen Weg in radikaler Konsequenz.]
Von ,,Weisheit" ist auch im Schlußverse des XLI. Libes-kuß die Rede, in einer Pointe, die concettistisch aus nicht aufgelösten Widersprüchen gewonnen wird: ,,Alles wechselt; alle libet; alles scheint was zu hassen: / Wer nur disem nach wird-denken / muß die Menschen Weißheit fassen".23 Weisheit ist darüber hinaus übergreifender Topos der Himmlischen Libes-küsse, von denen zwei sich auf das Corpus Hermeticum beziehen, die sonst aber Nachdichtungen aus ,,vornemlich des Salomonischen Hohenlides" bestehen.24 Zwart sind im 17. Jahrhundert Hohelied-Nachdichtungen und (in der Nachfolge Catulls und Johannes Secundus') Kuß-Dichtungen zwei inflationäre Genres, die - wie Birgit Biehl-Werner nachweist -, nicht einmal als Kombination originell sind.25 Doch scheint mir die Intertextualität von Kuhlmanns Lyrik und des Buchs Salomons komplexer zu sein, als es Interpreten bislang aufgefallen ist. Neben Lansius' und Harsdörffers Proteusversen sind die Sprüche Salomons XX-XXIX ein weiterer wichtiger Sub- und Paratext des XLI. Libes-kuß. So korrespondiert zum Beispiel dem Wortpaar ,,klug" - ,,Trug" in der vierten Strophe des Gedichts der Spruch VIII, 8: ,,Das ist des Klugen weisheit / das er auff seinen weg merckt / Aber das ist der Narren torheit / das es eitel trug mit jnen ist" oder zu ,,Witz" - ,,Wein" in der vierten Strophe der Spruch ,,Der Wein macht lose Leute / und starck Getrencke macht wilde / Wer da zu lust hat / wird nimer weise". Mit der Luther-Bibel von 1545 als Textgrundlage, die auch Kuhlmanns Bücherliste verzeichnet, lassen sich mindestens neunzehn Wortpaare einzelnen Sprüchen zuordnen. Der XLI. Libes-kuß ist selbst textanalytische Lektüre von Salomos Spruchweisheit, indem er die Sprüche als versus rapportati bzw. ,,Concordantes" nach der Definition Scaligers liest und auf ihre Stammwörter reduziert. Die Sprüche Salomons sind also nicht bloß Topik, sondern werden als auskombinierte Menge von Wechselsätzen gelesen, denen ein generativer Mechanismus zugrundeliegt. Neben seinen vielen anderen Aspekten ist der XLI. Libes-kuß also das reverse engineering einer imaginären salomonischen Maschine, die Rekonstruktion eines verlorenen Quellcodes aus 596 Output-Sequenzen.

Literatur

[Har53]
Harsdörffer, Georg P.: Poetischer Trichter . Nürnberg : ?, 1648-53
[Kuh71]
Kuhlmann, Quirinus: Himmlische Libes-küsse . Tübingen : Niemeyer, 1971 (1671)
[Kuh73]
Kuhlmann, Quirinus: Lehrreicher Geschicht-Herold . Jena : Johann Meyer, 1673
[Mön55]
Mönch, Walter: Das Sonett . Heidelberg, 1955
[Neu78]
Neubauer, John: Symbolismus und symbolische Logik . München : ?, 1978
[Sca61]
Scaliger, Julius C.: Poetices libri septem . Stuttgart : Frommann, 1964 (1561)

Fußnoten

1[Mön55], S.151f.
2[Sca61], S.73
3[Har53], S.51
4Harsdörffer, a.a.O.
5Scaliger, a.a.O.
6Bei Scaliger 720 statt 240, wenn man den relativ freien ,,Hexameter" der in Alsteds Enzyklopädie [Nachweis...] ausgeführten Permutationen des Verses als Maßstab nimmt. Gemäß der strengen Definition des Hexameters blieben sogar nur 96 Möglichkeiten, die Wörter des Gedichts metrisch korrekt umzustellen.
7[Verweis nachtragen]
8Justus Georg Schottelius, Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, 1663 (Tübingen 1967), Bd.1, S.36.
[Folie, Denckring] Harsdörffer versucht, selbst die Stammwörter in noch kleinere Morpheme zu zerlegen und mit einem selbskonstruierten Mechanismus, dem ,,Fünffachen Denckring der teutschen Sprache", zu einem universalen Wortbildungssystem zu synthetisieren. Über Kuhlmann, der schon in seiner Gymnasialzeit Lobverse auf Schottelius verfaßt hatte, berichtet ein Jenaer Kommilitone 1672 an Sigmund von Birken: ,,Weil Schottelij opus in 4t. unvollkommen, wolle Er in foliô eines ediren, und den Grund der teutschen Sprache, auf eine Lullianische Art, heben". Blake Lee Spahr, [nachtragen], S. 609f.
9[Kuh71,S.59]
10Harsdörffer betreibt seine poetische Sprachforschung noch zusammen mit Schottelius in der Fruchtbringenden Gesellschaft, Kuhlmann widmet den XLI. Libes-kuß seinem Breslauer Mäzen, der ebenfalls Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft ist.
11[Kuh73], Abschnitt 19
12[Kuh71,S.59f.]
13[Kuh73,Abschnitt 20]
14[Neu78,S.33]
15Geschicht-Herold, a.a.O.
16Und selbst dann müßte es fast eine halbe Milliarde (479.001.600) Zustände ermitteln, was im Sekundentakt 5544 Tage dauern würde.
17Ein tausendfaches Wechselrad ermittelt zwar 1000 Permutationen gleichzeitig, es bleiben aber manuell zu ermittelnde 999! Permutationen.
18Geschicht-Herold, Vorgespräche, 21
19Geschicht-Herold, Vorgespräche, 24
20Geschicht-Herold, Vorgespräche, 27
21,,Si puer ingenium versificatorium possideret, ver sificatoriam in paucis tabellis inclusam interpretarer, methodumque docerem extemporales versûs fundendi, sed versûs, non poëma". (Epistolae duae, [nachtrag])
22[Geschicht-Herold, nachtragen]
23[Kuh71,S.54f.]
24[Kuh71,Titelseite]
25vgl. Biehl-Werners Nachwort zu den Libes=küssen, a.a.O., S.10.