Literaturwanderung durchs Computernetz Von FLORIAN CRAMER "Vom Universum, das andere die Bibliothek nennen", handelt eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges. Die "Bibliothek von Babel" ist Wohnort ihrer Benutzer. Sie erscheint diesen als Ausgeburt eines kombinatorischen Mechanismus', der die Buchstaben des Alphabets so oft neu anordnet, bis jedes Buch geschrieben ist. Jede Geschichte scheint in ihr, bevor sie erfunden wurde, gefaßt. Die anfängliche Begeisterung der Bewohner weicht der Depression. Sekten bilden sich, die in einem der unzähligen Bücher den geheimen Hauptkatalog vermuten, Ikonoklasten treten auf den Plan, Würfler, delirierende Analphabeten. Die Wunsch- und Schreckensmetapher der Totalbibliothek erfuhr eine ungeahnte Konjunktur, als das Internet zum Massenmedium wurde. Sie prägte die Debatte seiner Theoretiker, von Skeptikern und Enthusiasten. Borges' Figuren gleich schienen sie zu ü bersehen, daß die Totalität der Bibliothek nur eine ihrer eigenen, unzä hligen Fiktionen ist. Das Internet, so stellt schnell fest, wer es einmal betreten hat, ist viel zu lückenhaft, um bibliomane Unendlichkeit auch nur vortäuschen zu können. Babylonische Spekulation sucht vergeblich, wer Reinhard Kaisers "Literarische Spaziergänge im Internet" nachschreitet. Der Übersetzer und passionierte Leser verordnete sich eine strikt pragmatische Sicht der Dinge. So wandert er von der herkömmlichen Bibliothek in die elektronische, ohne die Dimensionen aus dem Blick zu verlieren. Nicht das Netz als literarisches Gebilde ist sein Thema, sondern klassisch verstandene Literatur im Netz. Seine Erfahrungen sind nun in einen handlichen Reiseführer geflossen. Kaiser beobachtet aufmerksam, aber unaufgeregt. Seine Einsichten, die eine knapp dreißugseitige Einleitung summiert, sind lesenswert: Daß das Internet ein Lesemedium sei, und daß Gegner und Apologeten der imaginären Welten nur uralte Kontroversen über Nutzen und Verderbnis der Lesekultur aufwärmen. Er beschreibt mangelnde Professionalität der Inhalte als Kehrseite des Gratisangebots und liefert überfällige Argumente gegen Netz-Kritiker, die wenig mehr benennen, als das Scheitern ihrer ohnehin verqueren Heilserwartungen ans Medium. Kaisers Pragmatismus ist symptomatisch für die neuere Internet-Publizistik. Er kündet von verblassender Faszination und erlahmenden Theoriedebatten, aber auch vom Durchbruch des Computernetzes zum Alltagsmedium, bei fortdauernden technischen Unzulänglichkeiten. So ist Lebenshilfe gefragt. Ein zweites Einleitungskapitel hilft beim Einstieg ins Internet, erklärt Zugangsmodalitäten, Netz-Werkzeuge und Benutzertricks, wirkt aber wie ein halbherziger Versuch, der Zielgruppe des Buchs, literarisch gebildeten Computerlaien, die Schwellenangst zu nehmen. Zu unspezifisch sind die Ausführungen, um als technische Anleitung zu genügen. Die eigentlichen "Spaziergänge" entpuppen sich als ein 166seitiges, kommentiertes Adreßbuch literarischer Netzangebote. Es stellt Suchmaschinen, Indizes und Bibliothekskataloge vor, listet Autorenporträts, Netzlyrik und Hypertextprosa auf, nennt Zeitschriften und Anthologien, Lexika und Bibeln, Buchhandels- und Verlagsverzeichnisse. Ein Seitenblick auf Kunst-, Musik- und Film-Seiten sowie ein Titelindex der größten elektronischen Klassikerbibliotheken runden das Buch ab. Das alles ist solide recherchiert und kommentiert. Erfahrene Internet-Leser werden wenig Überraschendes entdecken, aber auch keine eklatanten Lücken. Die Adressen fügen sich zu einem gediegenen Kompendium. Neulinge finden hier mehr als nur Ausgangsstationen; sie können sich vorab ein Bild machen vom Bauzustand der Online-Bibliotheken und erwägen, ob der Einstieg ins Netz lohnt. Der Autor dokumentiert, daß der Literaturbetrieb im Internet noch auf Amateurniveau verharrt. Das neugierige Wohlwollen, mit dem er sich den Stationen seiner Wanderung nähert, muß auch der Leser aufbringen, der die Spur aufnimmt. Kaiser versucht, seinem Publikum entgegenzukommen, indem er die Internet-Adressen nach Druckmedien-Systematik anordnet und seinen Spaziergang als Bibliotheksführung anlegt. Doch ist der eigentliche Kompromiß des Buchs, daß es überhaupt als Buch erscheint. Denn Kaiser hat de facto eine Web-Site geschrieben, einen kommentierten Netzindex ähnlich dem "Point Review" [http://www.pointcom.com]. Das Resultat entbehrt nicht gewisser Ironien. Um die Leser zu Hause abzuholen, muß er das Netz-Terrain kartographieren, statt auf ihm selbst Wegweiser zu errichten. Als reine Online-Publikation hätten die "Spaziergänge" ihr Zielpublikum verfehlt; und dennoch mag Kaisers Argument, man könne im Buch schneller blättern und mehr Text verdauen als auf Web-Seiten nicht recht überzeugen. Der Verlag hätte wenigstens eine Diskette spendieren können, damit der Leser das Adreßbuch direkt in seinen Browser laden und per Mausklick nutzen kann. Das wäre, dank des standardisierten, rechnerunabhängigen HTML-Formats, höchst einfach zu bewerkstelligen gewesen. Statt dessen muß der Leser jede Web-Seite, die ihn interessiert, per Hand aufrufen und sinnlose "http://. . ."-Bandwürmer aus dem Buch abtippen. Doch damit nicht genug der Probleme. Der Autor selbst zitiert im Vorwort Heraklit; was er kartographiert, ist, wie er schreibt, eine permanente Baustelle. So bleibt das Buch, notgedrungen, eine Momentaufnahme vom Sommer 1996. Schon jetzt überholt ist die technische Einführung mit ihren Anschriften verblichener Onlinedienste und Bezügen auf ausgemusterte Browsersoftware. Die Netzliteratur durchlebt eine unruhige Pionierzeit. Es ist abzusehen, daß das Buch spätestens im übernächsten Sommer vom Markt genommen wird. Zwar könnte eine begleitende Web-Site die veralteten Links auf den neuesten Stand bringen. Doch dann würde sich die Diagnose vom Amateurmedium selbst einholen. Denn ohne Honorar wäre dem Autor solch ein Service nicht zuzumuten. So werden auch passionierte Online-Leser geschriebene Netzliteratur wie Kaisers "Spaziergänge" im Buchhandel kaufen müssen. Reinhard Kaiser: Literarische Spaziergänge im Internet. Eichborn, Frankfurt/M. 194 S., 29,80 Mark. Copyright: DIE WELT, 2.10.1996